Die Geschichte des öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen

Die Bedeutung des Sachverständigen als Beweismittel im gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren ist aufgrund schnell fortschreitender technologischer Entwicklungen in allen Lebensbereichen stark gestiegen. Bereits im mittelalterlichen Stadtleben gab es den Einsatz von Sachverständigen. Das Entstehen des Sachverständigenwesens findet ihre Anfänge in der deutschen mittelalterlichen Stadt. Damals hatten besonders fachkundige Handwerker und Meister als Sachverständige bestimmte Prüf- und Kontrollaufgaben zu erledigen. Im Straf- und Zivilprozess wurden gleichermaßen Sachverständige benötigt.

I. Der Beginn des Sachverständigenwesens: Kontrolle des Handels und der Waren

Von Gilden und Zünften (*) eingesetzt, kontrollierten Sachverständige angebotene Waren und Dienstleistungen. Mit der Zeit entwickelten sich die Gilden zu mächtigen Handelsmonopolen (z. B. Fugger, Welser, Hanse) in den jeweiligen Städten mit eigenen Handelsräumen. Dadurch gewannen die Gilden zunehmend an politischem Einfluss, wobei es ihnen zuweilen gelang, einzelne Städte politisch zu kontrollieren. Stadtverwaltungen, oft durch die kaufmännischen Gilden beherrscht, setzten bestimmte Vertrauenspersonen (Sachverständige) als Handelsfunktionäre ein.

Die als Schätzer (Taxatoren) tätigen Sachverständigen waren mit der Wertermittlung von Sachwerten beschäftigt. Wardein, auch Guardein, (lat. guardianus „Wächter, Hüter“) ist der Titel eines Beamten, der im Mittelalter die Erze und die Münzen untersuchte. Je nach Tätigkeitsschwerpunkt gab es den Erzwardein (auch Erzprobierer), der Erze untersuchte sowie den Münzwardein, der Münzen zu untersuchen hatte.

Weitere Berufsbezeichnungen des Schätzers waren Schatter, Schattmann, aestimator, aestimator panis (Brotbeschauer), aestimator rerum (Aufschlageinnehmer). Oftmals waren diese Taxatoren und Gerichtskäufer zudem in Pfandangelegenheiten tätig. Kaufleute konnten Messmeister, Wägemeister und vereidigte Eichmeister direkt beauftragen, um richtige Gewichte und Maße zu überprüfen. Der Einsatz der Sachverständigen als Makler, Wäger, Schaumeister oder Taxator im Zivilverfahren diente der Wahrung der Qualität, der Ehre des Berufstandes und dem allgemeinen Schutz.

Seit dem Mittelalter gehört Frankfurt am Main zu den bedeutendsten urbanen Zentren Deutschlands. 794 erstmals urkundlich erwähnt, war es seit dem Hochmittelalter Freie Reichsstadt und bis 1806 Wahl-, seit 1562 auch Krönungsstadt der römisch-deutschen Kaiser. In den letzten vierzig Jahren des 16. Jahrhunderts, der Zeit der höchsten Blüte des Frankfurter Meßverkehrs einerseits und der Überlegenheit der Waffen katholischer Mächte andererseits fällt der Erlass, durch welchen der Kaiser Maximilian II. am 1. August 1569 eine Bücherkommission in Frankfurt einsetzte.

Buchdruckerwerkstatt, 1635Buchdruckerwerkstatt, 1635, Kupferstich (1)

„Indeme die truckerherren bis dermohlen noch nit so stark im Schwunge waren“

sagt ein dem Frankfurter Rate über die Bücherkommission unterbreitetes Gutachten vom Jahre 1696. Über den Vorschlag, durch verständige Leute die Bücher taxieren zu lassen, heißt es:

„Das würden feine Taxatores sein, die Bücher ihrer Mitgenossen würden Sie wohl zu ihrem Vortheil taxiren, allein wer Sie ihnen widerumb, wann Sie solche andern verkauffen wollen, taxiren solle, davon schweigen sie ganz stille. Falls Ihr aber Bücher, Traktate oder Mappen findet, für welche Unser Privilegium nicht sofort beigebracht oder für dessen Beibringung auf der nächsten Messe keine Bürgschaft gestellt werden kann, so sollt Ihr alle diese Opera an Unsrer Statt in Eure Verwahrung nehmen und Unserm Reichssekreter und Taxator Christoph Ungelter von Teiffenhausen sammt Verzeichniß und Eurer Anzeige übersenden. Diejenigen endlich, welche ein Privilegium vorlegen können oder es auf nächster Messe vorlegen wollen, sollt Ihr anhalten, nachzuweisen, wann und wie viel Exemplare sie Unsrer Reichshofkanzlei übersandt haben, oder aber Ihr sollt sogleich so viel Exemplaria zu Handen nehmen, auch wie viel Jahre Ihr das ausgebrachte Privilegium gestellt befinden werdet, und solche ebenmäßiger Gestalt Unsrer Reichskanzlei übersenden.“ (2)

Um spätere Beanstandungen beim Kauf handwerklicher Waren und Erzeugnisse zu vermeiden, führten Zünfte Kontrollen („Umgänge“) durch die „Älterleute“ ein. Die Häufigkeit und Anzahl der Umgänge standen im eigenen Ermessen der Älterleute und wurden durch einen vereidigten Meister sowie einen Vertreter der Kaufleute vorgenommen.

„Nach der Rolle der Bechermacher von 1489, Januar 22, sollte niemand Becher zu Markte bringen, wenn sie nicht erst den Werkmeistern gezeigt worden waren; Arbeitsstücke von Gästen sollten nach der Kürschner-Rolle von 1387, März 3, Art. 13, von keinem Amtsbruder zum Zweck des Verkaufs erworben werden, wenn nicht die Werkmeister zuvor die Vollwertigkeit des Erzeugnisses bestätigt hatten.“ (3)

Wurde eine Arbeit durch den Meister nicht nach Zufriedenheit der Auftraggeber ausgeführt, so war nach der Rolle von 1537, Juni 18, Art. 7, eine Besichtigung durch die Werkmeister des Amtes vorgesehen. Je nach Berufsstand wurden ein oder mehrere Meister (Sachverständige) ausgesandt. War eine Beanstandung zutreffend, musste der Schaden ausgebessert und an das Amt eine Buße bezahlt werden.

II. Aufschwung des Sachverständigenwesens: Der Sachverständiger bei Gericht

Gerichtsszene, 1563Gerichtsszene, 1563, Holzschnitt, Bildunterschrift: „Zehn geboten“ (4)

Doch erst am Ende des 18. Jahrhunderts brachte der technische Fortschritt großen Aufschwung in das Sachverständigenwesen. Die Sachverständigen spezialisierten sich auf den wichtigsten Gebieten des täglichen Lebens. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und dem anschließenden Zeitalter der Industrialisierung erfolgte eine immer schnellere technische Entwicklung, fachliche Spezialisierung und Arbeitsteilung. Sachverhalte wurde immer umfangreicher und komplizierter. Dies verlangte erstmals eine Aufteilung von Sachgebieten und Zuständigkeiten, einhergehend mit der Schaffung eines einheitlichen Prozessrechts. Die öffentliche Bestellung und Vereidigung wurde schrittweise auf verschiedensten Gebieten eingeführt. Hierzu werden Sachverständige bis heute vor ihrer Bestellung auf Grund besonderer gesetzlicher Bestimmungen auf ihre persönliche Eignung und fachliche Qualifikation hin geprüft.

§ 404 Abs. 2 ZPO, § 73 Abs. 2, StPO, § 98 VwGO: Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn besondere Umstände es erfordern.

Heutzutage werden neben der Wertermittlung von Sachwerten, forensischen Untersuchungen oder Feststellungen von Schäden auch z. B. immaterielle Werte wie Grundstücke, Antiquitäten, Kunstgegenstände, Fragenstellungen zur angemessenen Vergütung oder kommunikative Marken (Logos) und CI-Werte (Corporate Identity) Gegenstand einer Wertermittlung. Der Wert einer Sache wird bei der Schätzung häufig von einem Sachverständigen oder Experten ermittelt, der anhand seiner Erfahrung beziehungsweise mithilfe standardisierter Verfahren einen aus seiner Sicht angemessenen Wert festlegt.

III. Der Sachverständige heute

Den Schätzer von damals gibt es heute nur noch selten, z. B. in der Bodenschätzung. Gutachter ist der eher geläufige moderne Begriff. Der „Sachverständigenbeweis“ spielt zudem eine wichtige Rolle in Gerichtsentscheidungen.

Gerichte und Justizbehörden überprüfen Sachverständige nicht mehr selbst, sondern überlassen einer dritten, neutralen, unabhängigen Institution, den Bestellungskörperschaften (IHK), die Überprüfung der notwendigen Eignung und Qualifikation. Die Industrie- und Handelskammern bestellen Sachverständige nach den Regelungen von §§ 36, 36a GewO (Gewerbeordnung) auf rund 275 Sachgebieten. Die Handwerkskammern bestellen Sachverständige nach § 91 Abs. 1 Ziff. 8 HwO (Handwerksordnung). Bestellt werden Sachverständige auch durch Landwirtschaftskammern sowie Ingenieur- und Architektenkammern.

Alle für den öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen geltenden Rechten und Pflichten regeln die Sachverständigenordnungen (SVO) der Industrie- und Handelskammern (5), die aus der Muster-Sachverständigenordnung (MSVO) des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) resultieren. Der Sachverständige ist zur Verwendung des durch die Kammer verliehenen Rundstempels (Siegels) verpflichtet. Er genießt einen gesetzlich geregelten Bezeichnungsschutz (§ 132a Abs. 1 Nr. 3 StPO).

Dr. Stefan K. Braun

Erstveröffentlichung: Der Sachverständige, Ausgabe 03/2014, C. H. Beck Verlag
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(*)
Gilde (Genossenschaft, Trinkgelage), Zusammenschluss von Kaufleuten, allgemein ein Zusammenschluss Gleichgesinnter.
Zunft (collegium, Amt, Innung), Ständige Körperschaften von Handwerkern, im Mittelalter zur Wahrung gemeinsamer Interessen entstanden, existierten bis ins 19. Jahrhundert. Durch Einführung der Gewerbefreiheit im 19. Jhd. Abschaffung der Zünfte.

Quellen
(1) Buchdruckerwerkstatt, 1635, Kupferstich
Pictura Paedagogica Online, Standort (Universität Hildesheim), 0004183b
(2) Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels bis in das siebzehnte Jahrhundert. Band 1, Leipzig: Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, 1886., S. 736.
(3) Brügmann, Das Zunftwesen der Seestadt Wismar bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Mecklenburgische Jahrbücher, Band 99 (1935), S. 133 ff.
(4) Gerichtsszene, 1563, Holzschnitt, Bildunterschrift: „Zehn geboten“
Pictura Paedagogica Online, Standort (Universität Hildesheim), 0007511a
(5) Sachverständigenordnung der IHK Frankfurt am Main